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Nach dem Gerichtstermin ist vor dem Gerichtstermin

Es schien zum Greifen nah: Freispruch für uns #Istanbul10 inklusive Taner Kılıç! Freiheit für Osman Kavala! Aber es kam wieder einmal anders: Am 18. Februar wurde der Kultur- und Menschen-rechtsmäzen Osman Kavala nach knapp drei Jahren Haft endlich freigesprochen. Familie, Freund*innen und Unterstützer*innen warteten schon auf ihn vor den Toren des Gefängnisses. Doch dann eine neue Hiobsbotschaft: ein neues Verfahren wurde am selben Tag gegen ihn eröffnet, er blieb in Haft. Gegen die Richter*innen, die ihn freigesprochen hatten, wurden Untersuchungen eingeleitet. Dadurch wird klar: das neue Verfahren ist genauso politisch motiviert wie das alte, die Ermittlungen gegen die Richter*innen dienen der Einschüchterung. Dies hatte wohl auch Erfolg beim Verhandlungstermin gegen uns #Istanbul10 und Taner Kılıç: Nach über 6 Stunden Anhörung wurde die Sitzung am 19. Februar auf den 3. April vertagt. Dies wäre nicht notwendig gewesen: Hatte die Staatsanwaltschaft doch im November 2019 den Freispruch für fünf von uns (unter anderem für Ali Gharavi und mich) bean-tragt. Allerdings für die anderen sechs langjährige Haftstrafen. Aber es kam nicht zu Freisprüchen oder Urteilssprüchen. Ob die Richter*innen aufgrund der Vorkommnisse am Vortag besonders vorsichtig waren? Einer meiner Anwälte berichtete von seinem ersten Besuch bei ihm nach der erneuten Verhaftung, dass Kavala sehr gefasst gewesen sei. Für ihn, seine Familie und Unterstützer*innen geht die Extrembelastung nun weiter. Auch wenn keine*r von uns #Istanbul10 mehr in Haft ist, geht auch für uns das Warten und die Unsicherheit weiter. Die emotionale Belastung ist doch enorm. Wir unterstützen uns wei-ter gegenseitig und erfahren viel Solidarität. Die, die von #Istanbul10 bei der Verhandlung waren, hielten starke Verteidigungsreden: Günal Kurşun: »Wir sind Menschenrechtsverteidiger*innen. Wir machen das nicht für materielle Zuwendungen. Wir tun das, um die Rechte der Menschen zu verteidigen. Wir sind ehrbare Menschen. Mit dem Versuch, uns zu kriminalisieren, wird unsere Ruf geschädigt. Das ist wirklich schmerzhaft für uns. […] Eine Bestrafung soll nur dazu dienen, uns auf Linie zu bringen. Es tut mir leid, aber egal, ob ich freigesprochen oder verurteilt werde, ich werde meine Arbeit als Menschenrechtsverteidiger fortführen. Ich verlange Freisprüche für uns alle!« Ilknur Üstün: »Ohne die Arbeit von Menschenrechtsverteildiger*innen können keine Fortschritte erreicht werden. Menschenrechte zu verteidigen, kann nicht kriminalisiert werden, nicht hier noch irgendwo sonst in der Welt. Das Verlangen des Staats-anwalts nach einem Freispruch für mich ist richtig. Wir sind alle in derselben Position, wir müssen alle freigesprochen werden!« So gehen wir mit viel Kraft von innen und außen in die kommenden Verfahrenstermine. Solidarität trägt!

Peter Steudtner