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Die Messiaskapelle – eine Spurensuche

Viele von uns sind sicher schon etliche Male die Kastanienallee entlang und dabei an dem Haus mit der Nummer 22 vorbei gegangen und haben das Schild „Messiaskapelle“ wahrgenommen. Wer oder was verbirgt sich dahinter? Welche Bedeutung hat dieses Haus für unsere Gemeinde?

Der äußere Anlass zu diesem Versuch einer Spurensuche war im Januar 2024 eine Sendung im Deutschlandfunk, die sich mit der Geschichte der Messiaskapelle in der Kastenienallee 22 im Prenzlauer Berg beschäftigte. Beim Hören des Textes habe ich mich erinnert, dass ich ca. 2007 einen Auftrag von Frau Gerlind Lachenicht angenommen habe, aus dem Kirchenbuch des Bezirks Segens die Daten derjenigen Gemeindeglieder mit jüdischer Herkunft herauszuschreiben, die in den Jahren 1933 – 1940 in der Messiaskapelle von den Pfarrern Burgstadler und Knieschke getauft wurden und ihre Daten auf Karteikarten zu übertragen. Die Arbeit stand im Zusammenhang mit der beginnenden Erforschung der Schicksale von Mitbürgern jüdischer Herkunft durch die Arbeitsstelle für Erinnerungskultur. Mehr als 700 Namen habe ich erfasst. Die Eintragungen in den Kirchenbüchern erfolgten sehr sorgfältig und genau – natürlich handschriftlich und in Sütterlinschrift (eine Schrift, die heute nicht mehr für jeden lesbar ist). Die großen, schweren Folianten atmeten für mich noch den Geist des 20.Jahrunderts und flößten mir erheblichen Respekt ein. Verzeichnet wurden Name, Vornamen, Geburtsort und -datum, Religion und Taufdatum. Ich habe diese Aufgabe gern übernommen, weil mich die Geschichte unserer Gemeinde bis heute sehr interessiert. Anfangs stand das sachliche Interesse im Vordergrund, aber bald überwog die innere Anteilnahme und berührte mich das Schicksal der Menschen, das mir aus den Eintragungen entgegenblickte. Mitunter waren es viele Angehörige ein und derselben Famiilie von den Großeltern bis hin zu Säuglingen, die an einem Tag getauft wurden. Mitunter waren es auch Menschen, deren Namen ich noch aus meiner Kindheit kannte.

Wie kam es zu den Taufen in der Messiaskapelle? Die Eigentümerin des Grundsstücks in der Kastanienallee 22 war die „Gesellschaft zur Beförderung des Christentums unter den Juden“, die 1822 gegründet wurde. Deren Aufgabe und Ziel war die Missionstätigkeit unter den Juden. Damals wurde von den christlichen Kirchen vielfach die Ansicht vertreten, dass die christliche Taufe die Voraussetzung für die Erlangung Heils sei. Die Bebauung des Grundstücks mit der Kapelle begann 1902 und am 1.Advent 1902 wurde die Kapelle eingeweiht. Die Segensgemeinde, die sich in umittelbarer Nachbarschaft befindet, unterstützt die Arbeit in der Messiaskapelle, und seit 1933 hilft sie tatkräftig den rassisch verfolgten Menschen in ihrer Gemeinde.

In der Pogromnacht des 9. November 1938 wird auch die Messiaskapelle sehr stark beschädigt und die Innenräume zerstört. Der Wiederaufbau gelingt. Ab Janar 1939 erfolgt die Anweisung durch die oberste Kirchenbehörde, dass Juden und „Mischlinge“ nur noch in der Messiaskapelle getauft werden dürfen. Lange vorher schon waren Gemeindeglieder jüdischer Herkunft vielfach unerwünscht und wurde ihnen von den Pfarrern die Taufe versagt. Mit den Rassegesetzen 1935 werden Judentaufen in christlichen Gottesdiensten verboten und die Messiaskapelle wird zum Zufluchtsort für Menschen mit jüdischer Herkunft. Nach einem Taufunterricht wurden sie nun in der Messiaskapele getauft und die Taufe ins Kirchenbuch der Segensgemeinde eingtragen. Die Menschen jüdischer Herkunft wünschten sich oftmals die christliche Taufe, weil sie sich durch die Taufe Schutz vor Verfolgung, Vertreibung und Deportation erhofften. Von den 700 Menschen, die ich damals ermittelt habe, wurden 86 verschleppt, nur 2 von ihnen überlebten.
1941 erfolgte das Verbot der „Gellschaft zur Beförderung….“ und die Schließung der Messiaskapelle – die Deportationen begannen.

1947 wird die „Gesellschaft zur Beförderung ..“ wieder zugelassen und erhält das Gebäude in der Kastanienallee 22 zurück. Nun werden dort wieder Gottesdienste gefeiert und Bibelstunden durchgeführt. Im Jahre 1982 löst sich die Gesellschaft selbst auf (die evangelische Kirche nimmt zunehmend eine kritische Haltung zu den Zielen der „Gesellschaft…“ ein) und das Grundstück wird dem St.Elisabeth-Stift übertragen. 1993 wird die Messiaskapelle unter Denkmalschutz gestellt. Unterschiedliche Mieter und Eigentümer und unterschiedliche Nutzungen wechseln sich ab. 2003 wird das Evangelische Klubheim für Berufstätige e.V. Mieterin, die sich mit vielen Veranstaltungen der Geschichte dieses Ortes und dem Schicksal der Menschen widmet. 2007 verkauft das St.Elisabeth-Stift das Grundstück. Es wird 2008 an einen privaten Eigentümer verkauft. Unser Kirchenkreis Stadtmitte und verschiedene Einzelpersonen – Bischof Huber, Frau von Kirchbach und viele andere bemühen sich um den Erhalt der Messiaskapelle als Gedenkort für deportierte Christen jüdischer Herkunft – leider ohne Erfolg.

Inzwischen hat 2004 die Erinnerungsarbeit auf landeskirchlicher Ebene begonnen – die Arbeitsstelle Erinnerungskultur entsteht und nimmt ihre Arbeit zur Geschichte der verfolgten und deportierten Menschen jüdischer Herkunft auf.
Es gelingt, mit dem jetzigen Eigentümer zu vereinbaren. dass die Messiaskapelle an bestimmten Tagen für Gedenkveranstaltungen genutzt werden darf.

Um die Messiaskapelle auch äußerlich als Gedenk- und Erinnerungsort kenntlich zu machen, wurde Ende 2023 vor dem Haus eine Stolperschwelle verlegt. Wir begegnen auf unseren Wegen vielen Stolpersteinen in den Straßen unseres Gemeindegebietes, die uns an Menschen erinnern, die unter uns gelebt und gelitten haben, die uns – die nachgeborene Generation – mahnen, dass das „Nie wieder!“ auch uns gilt.


Ingrid Volz